Die raffinierte Konstruktion gibt Antwort auf die Frage, welchen Körper die realen Pigmentfarben im idealen Farbenraum einnehmen. Die Antwort setzt komplizierte Farbmessungen und entsprechende reizmetrische Formeln voraus. Sie kann nur mathematisch gefunden werden. Die gezeigte Darstellung ergibt sich im Vektorraum der Farben, wenn als Koordinaten die sogenannten Luther-Maßzahlen benutzt werden. Es ist amüsant, sich vorzustellen, daß gerade in den Jahren, in denen zwei Physiker versuchen, das subjektive Element bei der Konstruktion von Farbkörpern abzuschaffen und durch objektive Kriterien zu ersetzen, ihre Kollegen gezwungen werden, im Bereich der Atome den umgekehrten Weg einzuschlagen. In der Mitte der 20er Jahre wird immer deutlicher, daß selbst in der exakten Physik der Einfluß des Beobachters nicht zu vernachlässigen und eine subjektive Komponente unumgänglich ist. (Ausführlicher Text)
In den Jahren 1927 und 1928 publizierten die beiden Physiker R. Luther und N. D. Nyberg zwei technisch-wissenschaftliche Arbeiten, in denen sie Neuigkeiten «Aus dem Gebiet der Farbreizmetrik» mitteilten beziehungsweise Anmerkungen «Zum Aufbau des Farbenkörpers im Raume aller Lichtempfindungen» machten. Ihr Interesse richtete sich auf die Frage, welche Figur beziehungsweise welcher «Körper» sich zeigt, wenn man die tatsächlich existierenden materiellen Pigmentfarben in einem theoretischen Konstrukt namens «Farbenraum» unterbringt. Die beiden Physiker lieferten bei ihrer Suche nach einer Antwort schließlich eine neue räumliche Ordnung der Mannigfaltigkeit, die die Farben zeigen.
So schön sich diese Ordnung und die sie tragenden Gebilde erweisen, so vertrackt und verworren für den Außenstehenden ist die Methode, die zu ihrer Aufstellung führt. Wir betreten hier nämlich zum ersten Mal das mathematisch durchsetzte Gebiet der Farbmetrik, in dem es darum geht, Farben durch Zahlen zu kennzeichnen und auf diese Weise Beziehungen zwischen ihnen meßbar zu machen. Genauer geht es um eine Farbreizmetrik, wobei unter einem Farbreiz die Strahlung zu verstehen ist, die ins Auge gelangt und dort absorbiert wird. Experten der Farbmetrik haben viele Möglichkeiten, mit drei Parametern die drei Dimensionen anzugeben, die einen sogenannten Farbenraum so aufspannen, wie es die drei geometrischen Größen der Höhe, Länge und Breite im Fall des anschaulichen Raumes tun, in dem wir uns bewegen. Bei den drei von Luther und Nyberg eingesetzten Dimensionen handelt es sich um zwei sogenannte Farbmomente — sie spannen die Ebene auf, über der sich der links dargestellte Körper erhebt — und den sogenannten Hellbezugswert L, der senkrecht dazu aufgetragen wird. Der Hellbezugswert kennzeichnet die Helligkeit einer Körperfarbe so, wie ein Auge sie bewertet, nämlich im Vergleich zu den Helligkeiten anderer Körper, die zugleich gesehen werden. Und die Farbmomente kennzeichnen auf technisch nachprüfbare Weise die unterschiedlichen Farbarten.
Luther und Nyberg greifen auf den Farbenkreis von Ostwald zurück, der mit acht Vollfarben konstruiert ist (in der Ostwaldschen Ausdrucksweise: Gelb, Kreß, Rot, Veil, Ultramarinblau, Eisblau, See-grün und Laubgrün), aus denen später 24 Farbtöne werden. Die Vollfarben nehmen im Körper von Luther und Nyberg die durch die Linie Y-G-B-P angedeutete Stellung ein: Yellow (Gelb) — Green (Grün) — Blue (Blau) — Purple (Purpur). Zusätzlich wird das Konzept der Optimalfarbe ausgenutzt, das so definiert ist, daß die Optimalfarbe zur hellstmöglichen Körperfarbe einer gegebenen Farbart wird. Man kann sich das Gebilde als Umbau des Ostwaldschen Doppelkegels vorstellen, von dessen ursprünglichem Aussehen nur noch die Verbindungsgerade zwischen dem Weiß- und dem Schwarzpunkt (W, BK) geblieben ist, auf der die Gesamtheit der Grautöne liegen.
Die Gesamtheit der Optimalfarben bildet die Oberfläche des gezeigten Farbkörpers der Pigmente. Denn bei gegebenem Farbton und gegebener Helligkeit hat die Optimalfarbe die größte Sättigung. Und bei gegebenem Farbton und gegebener Sättigung hat die Optimalfarbe die größte Helligkeit. Da Farbton und Sättigung zusammen die Reizart bestimmen, die Vektoren zur gleichen Reizart im Farbenraum aber gleichgerichtet sind, zeichnet sich der Vektor der Optimalfarbe unter den Vektoren gleicher Reizart durch die maximale Länge aus. Somit erreicht er also immer die Oberfläche des Farbkörpers.
Die genaue (und ziemlich unsymmetrische) Gestalt des Farbkörpers von Luther und Nyberg ist nach einem relativ anspruchsvollen Formelschema reizmetrisch konstruiert worden. Die Auftragung kann dabei entweder in Helligkeits- oder in Reizeinheiten geschehen. Die eine Figur nutzt die Reizeinheiten aus, während in einer zweiten die Helligkeit den Vorzug erhält. In dieser Figur ist auch eine etwas abstraktere Form der Darstellung gewählt. Der Luther-Nyberg-Körper schwebt über einem Dreieck mit den mit X, Y und Z bezeichneten Grenzlinien, in dem die CIE-Farbkurve eingetragen ist. Die entscheidenden Koordinaten sind die senkrecht aufeinander stehenden Geraden — die erwähnten Farbmomente —, die zwei Eckpunkte des Dreiecks schneiden (bei X und Y). Die den Körper durchziehenden Linien — die sogenannten Höhenschichten — zeigen die Stellen, an denen die Optimalfarben den gleichen Hellbezugswert haben.
Es ist nicht nötig, all die technischen Details zu beherrschen, um die Form der Farbkörper zu genießen. Für den Fachmann bieten sie den zusätzlichen Vorteil, daß die in ihnen betonten und zum Tragen kommenden Optimalfarben es erlauben, theoretisch bequem an die Probleme der Buntfotografie oder des Vierfarbendrucks heranzugehen. Genauigkeit hat ihren Preis, der mit mathematisch-geometrischer Münze bezahlt werden muß. Die Mühe lohnt sich aber, denn der Farbkörper von Luther und Nyberg ist die farbmetrisch exakte Form vieler anderer Körper, die empirisch und nach Augenmaß entworfen worden sind.
Es ist amüsant, sich vorzustellen, daß gerade in den Jahren, in denen zwei Physiker versuchen, das subjektive Element bei der Konstruktion von Farbkörpern abzuschaffen und durch objektive Kriterien zu ersetzen, ihre Kollegen gezwungen werden, im Bereich der Atome den umgekehrten Weg einzuschlagen. In der Mitte der 20er Jahre wird immer deutlicher, daß selbst in der exakten Physik der Einfluß des Beobachters nicht zu vernachlässigen und eine subjektive Komponente unumgänglich ist. Der Dualismus, den Einstein für das Licht entdeckt hatte und demzufolge sich das Licht einmal als Welle und ein andermal als Teilchen zeigt, muß so verstanden werden, daß der Beobachter — das Subjekt — zwischen den beiden Aspekten wählen kann. Er legt fest, wie er seinen Gegenstand sieht. Objektivität bleibt dabei auf höherer Ebene möglich, wie die philosophischen Physiker bald verstanden haben, und seit diesen Tagen verliert das Gespenst der Subjektivität seinen Schrecken. Wissenschaft ist nie ausschließlich objektiv im traditionellen Sinne — schließlich wird sie von Menschen gemacht -, Wissenschaft hat stets subjektive Aspekte.
Datierung: Der Farbenkörper der beiden Physiker Luther und Nyberg wird 1927 beziehungsweise 1928 in Arbeiten zur Farbreizmetrik ausgearbeitet.
Grundfarben: Gelb, Grün, Blau und Purpur
Form: Farbenkörper, um die senkrechte Achse (Schwarz-Weiß) gebildet.
Referenzsysteme: Ebbinghaus — Ostwald — Pope — CIE
Literatur: R. Luther, «Aus dem Gebiet der Farbreizmetrik», Zeitschrift für technische Physik 8, 540-558 (1927); N. D. Nyberg, «Zum Aufbau des Farbenkörpers im Raum aller Lichtempfindungen», Zeitschrift für Physik 52, 406-410 (1928); M. Richter, «Einführung in die Farbmetrik», Berlin 1976.