Ein Verfahren, das nicht auf dem Experiment gründet, sondern mittels Introspektion erkundet, nennt man heute eine phänomenologische Analyse, wobei mit «Phänomen» (wörtlich «das Erscheinende») eine Erscheinung gemeint ist und von dem unterschieden wird, wovon die Erscheinung Kunde gibt. Eine Doppelpyramide mit schwarzer und weißer Spitze und einem Quadrat als Grundfläche, dessen Eckpunkte die vier Urfarben der Psychologie einnehmen, Rot, Gelb, Grün und Blau. Besonders hervorgehoben sind die jeweiligen Verbindungsachsen, die alle dem zentralen Grau zustreben. (Ausführlicher Text)
Der amerikanische Psychologe Edwin G. Boring war ein großer Verehrer von Hermann von Helmholtz, dem er 1942 sein grundlegendes Lehrbuch «Empfindung und Wahrnehmung in der Geschichte der experimentellen Psychologie» widmete. Speziell auf dem Sektor der Farben orientierte sich Boring aber etwas stärker an den Vorstellungen von Ewald Hering, der als einer der führenden Wahrnehmungspsychologen seiner Zeit um 1878 in seinem Farbsystem argumentiert hatte, daß die Vorstellungen von Leonardo da Vinci über sechs Primärfarben — zwei unbunte und vier bunte — zutreffend waren. Hering hatte dazu kein Experiment ausgeführt, sondern seine eigenen Farbempfindungen mittels Introspektion erkundet. Dieses Verfahren nennt man heute eine phänomenologische Analyse, wobei mit «Phänomen» (wörtlich «das Erscheinende») eine Erscheinung gemeint ist und von dem unterschieden wird, wovon die Erscheinung Kunde gibt.
Herings Farbsystem basiert also auf einer solchen Analyse, und im 20. Jahrhundert haben es ihm einige Psychologen nachgetan, zum Beispiel Edwin G. Boring im Jahre 1929. Er schlägt eine Doppelpyramide vor, deren mittlere Fläche durch ein Rechteck aufgespannt wird, an dessen Ecken die vier bunten Heringschen Gegenfarben liegen, nämlich Rot (Rosso) und Grün (Verde) beziehungsweise Gelb (Giallo) und Blau (Blu). Die Spitzen der Pyramiden werden von den unbunten Weiß (Bianco) und Schwarz (Nero) eingenommen. Vom grauen Zentrum aus verlaufen die Achsen zunehmender Farblichkeit: Weißheit (Biancastro), Schwarzheit (Nerastro), Rotheit (Rossastro), Gelbheit (Giallastro), Grünheit (Verdastro) und Blauheit (Bluastro) (Abb. Schema).
Der Psychologe F. L. Dimmick hat in den fünfziger Jahren auf die Boringsche Ordnung zurückgegriffen, um das Farbunterscheidungsvermögen bei Personen zu erkunden, bei denen eine hohe Empfindlichkeit verlangt werden muß. Er hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß das Grau in der Mitte mehr trennt als verbindet. Dimmick zufolge gibt es nicht eine Folge etwa von Schwarz nach Weiß oder von Rot nach Grün. Es gibt vielmehr zwei konsekutive Folgen vom Schwarzen zum Grauen und vom Grauen zum Weißen beziehungsweise von einer Primärfarbe zum Grauen und vom Grauen zur Gegenfarbe. Auch vom sprachlichen Gesichtspunkt aus argumentiert Dimmick für diese Trennung. Schließlich redet niemand von einem schwärzlichen Weiß, wohl aber von einem schwärzlichen Grau, und auch niemand kennt ein grünliches Rot, wohl aber ein grünliches Grau.
Ebenfalls zu Beginn der 50er Jahre hat übrigens der Philosoph Ludwig Wittgenstein seine «Bemerkungen über die Farben» aufgeschrieben, und viele seiner Überlegungen erinnern an die oben angeführten Argumente, zum Beispiel die Bemerkung 14:
«Wenn es aber auch Menschen gäbe, denen es natürlich wäre, den Ausdruck «rötlichgrün» oder «gelblichblau» in konsequenter Weise zu verwenden, und (die) dabei vielleicht auch Fähigkeiten verrieten, die uns fehlen, so wären wir dennoch nicht gezwungen anzuerkennen, sie sähen Farben, die wir nicht sehen. Es gibt ja kein allgemeines Kriterium dafür, was eine Farbe sei, es sei denn, daß es unsere Farbe ist.»
Datierung: Dieser phänomenologisch konstruierte Farbkörper des amerikanischen Psychologen Edwin G. Boring wird 1929 vorgestellt.
Herkunft: USA
Grundfarben: Rot, Grün, Gelb und Blau
Form: Doppelpyramide
Referenzsysteme: Hering — Pope
Literatur: E. G. Boring, «Sensation and Perception in the History of Experimetal Psychology», New York 1942; S. Hesselgren, «Why Color Order Systems?», Color Research and Application 9, 220-228 (1984); F. L. Dimmick, «Specification and calibration of the 1953 edition of the Inter-Society Color Council Color Aptitude Test», Journal of the Optical Society of America 46, 389-393 (1956).