Das Wort «Harmonie» stellt Ostwalds Ziel seiner Beschäftigung mit der Farbe dar. Erfahrungen haben ihm (und anderen) gezeigt, daß einige Kombinationen von Farben als angenehm (oder harmonisch) und andere als unangenehm empfunden werden. Die Frage lautet, wovon dies abhängt und ob dies als Gesetz gefaßt werden kann. Ostwald geht bei seiner Analyse der Farbharmonie von der Grundüberzeugung aus, daß sie durch Farbordnung zustande kommt. Vorgeschlagen wird ein Doppelkegel mit einer weißen und einer schwarze Spitze, zwischen denen eine stufenförmige Grauskala vermittelt, die nach einem psychophysischen Grundgesetz modelliert wird. Der Doppelkegel erwächst aus einem Farbenkreis, der in 24 Segmente (den Vollfarben) eingeteilt ist, die ihrerseits aus den vier Urfarben Gelb, Rot, Blau und Seegrün entspringen. (Ausführlicher Text)
1909 erhielt der Balte Wilhelm Ostwald (1853-1932) den Nobelpreis für Chemie, und zwar für Arbeiten, die sich im Grenzbereich zur Physik abspielten und industriell genutzt werden konnten (Stichwort Katalyse). Ostwald half zudem, die erste «Zeitschrift für Physikalische Chemie» zu gründen, und er war auch außerhalb seines Faches ein Grenzgänger. Über die rein wissenschaftliche Tätigkeit hinaus zeigte Ostwald großes Interesse an der Naturphilosophie und an der Geschichte seines Fachs, was sich durch «Ostwalds Klassiker der exakten Naturwissenschaften» bis in unsere Tage hinein verfolgen läßt.
Er versuchte viele neue Ansätze im naturwissenschaftlichen Denken, die nicht immer erfolgreich waren. So versuchte er zum Beispiel während einer gewissen Zeit, die Existenz von Atomen als überflüssige Hypothese abzutun, da man diese Gebilde ja nicht sehen konnte.
Seine letzte Liebe galt der Farbenlehre, und nach seiner Emeritierung im jungen Alter von 53 Jahren widmete er sich ihren Gesetzmäßigkeiten in der Hoffnung, die Harmonien ihrer Empfindung in den wissenschaftlichen Griff zu bekommen. 1916 erschien seine «Farbfibel» (historische Abb. 1 — Abb. 2 — Abb. 3), die sein entsprechendes System vorstellte (und 15 Auflagen erlebte).
Ostwald, der Albert H. Munsell auf einer Reise durch die USA im Jahre 1905 kennengelernt hatte, versuchte, wie der amerikanische Maler, die Farben durch ein System zu ordnen, das von der Empfindung ausgeht und die entsprechenden Unterschiede zwischen den einzelnen Farben gleich macht. Modern und technisch ausgedrückt kann man sagen, daß Ostwald anstrebte, mit valenzmetrischen Mitteln ein empfindungsgemäßes Farbsystem aufzubauen. Anstelle der drei Munsell-Parameter wählte Ostwald eine andere Gruppe von Variablen, nämlich Farbgehalt, Weißgehalt und Schwarzgehalt. Er führte noch den besonderen Ausruck einer «Vollfarbe» ein, worunter er eine Farbe verstand, die einen einzigen Farbton (Munsells «hue») wahrnehmen ließ und keine Beimischung von Weiß oder Schwarz enthielt. Genauer könnte man sagen, daß eine Vollfarbe eine optimal reine Farbe ist, das heißt, sie ist möglichst gesättigt und zudem gleichzeitig hell. Vollfarben sind natürlich Ideale, die von tatsächlich gegebenen Pigmenten nicht reproduziert werden können. (Als Ostwald seine Farbfibel herausbrachte, enthielten seine Vollfarben rund 5% Weiß und etwas weniger Schwarz, wie er selbst angab.)
Mit dieser Konzeption läßt sich der Hauptsatz von Ostwalds Farbenlehre wie folgt formulieren: Die allgemeinste Mischung ist die Mischung aus Vollfarbe, Weiß und Schwarz. Jede Pigmentfarbe läßt sich durch Angabe von Farbgehalt (zum bestimmten Farbton), Weißgehalt und Schwarzgehalt charakterisieren.
In der «Farbfibel» geht Ostwald systematisch vor und unterscheidet zunächst die bunten von den unbunten Farben. Die unbunten Farben ordnet er auf einer Linie als Grauskala aus acht Stufen an, wobei diese Stufen einer geometrischen Reihe folgen. Das heißt, der Einfluß des visuell dominierenden Weiß nimmt von oben nach unten nicht gleichmäßig, sondern eben geometrisch ab, wodurch die durch die Empfindung festgelegte Mitte zwischen Schwarz und Weiß durch einen Weißanteil von etwa 20% charakterisiert ist. (Ostwald verwendet dabei eine hier übergangene, weil eher verwirrende Auswahl von Buchstaben, um seine Stufen bezeichnen zu können.) Grundlage der Reihe ist das sogenannte Weber-Fechnersche Gesetz der Psychophysiologie, dessen Umsetzung aber technische Grenzen gesetzt sind (an denen Ostwald seine Graureihe auch abbrach).
Die Vollfarben werden auf einem Kreis angeordnet, der sich an dem System von Ewald Hering orientiert und mit vier Grundfarben beginnt, und zwar Gelb im Norden, Rot im Osten, Blau (genauer: Ultramarinblau) im Süden und Seegrün im Westen. Vier weitere Farben werden anschließend zwischen diese Hauptfarben gesetzt — Orange zwischen Gelb und Rot, Violett zwischen Rot und Ultramarinblau, Eisblau (Türkis) zwischen Ultramarinblau und Seegrün und Laubgrün zwischen Seegrün und Gelb. (Ostwald nennt Orange Kreß und Violett Veil, was hier aber nicht übernommen werden soll.) Die Farben sind dabei so angeordnet, daß sich wie bei Munsell kompensative Paare gegenüberstehen (also Farbpaare, deren Mischung ein neutrales Grau ergibt): Gelb — Ultramarinblau, Orange — Eisblau, Rot — Seegrün und Violett — Laubgrün.
Mit diesen acht Farben konstruiert Ostwald 24 Farbtöne in gleichen Abständen, die er von Gelb aus numeriert und als Farbenkreis anlegt.
Von den Vollfarben des Kreises aus konstruiert Ostwald im folgenden die sogenannten «hellklaren» beziehungsweise «dunkelklaren» Farben, die sich als «empfindungsgemäß gleichabständige» Reihe von der jeweiligen Farbe zu Weiß beziehungsweise Schwarz ergeben. Und damit kann er sich an seine eigentliche Aufgabe machen, nämlich die allgemeine Mischung der übrigen Farben anzugeben, die Ostwald als «trübe Farben» (oder in Anlehnung an Hering auch als «verhüllte Farben») bezeichnet und die die Mehrzahl der vorhandenen Körperfarben ausmachen.
Jede solche trübe Farbe kann als Mischung aus einer Vollfarbe und einem Grauton bestimmt werden, und der Grauton als Mischung aus Schwarz und Weiß. Daher können alle gewünschten Farbstandards einer Vollfarbe durch ein gleichseitiges Dreieck erfaßt werden, dessen senkrechter Schwarz-Weiß-Achse — der erwähnten Grauskala — die Vollfarbe als dritter Punkt gegenüberliegt. Die von der Vollfarbe zu Schwarz beziehungsweise zu Weiß gehenden Seiten enthalten die hellklaren beziehungsweise die dunkelklaren Farbreihen.
Ein derartiges monochromatisches Dreieck, das Ostwald mit dem Attribut «psychologisch» versah, wird mit dem Dreieck der gegenüberliegenden Komplementärfarbe zu einer Raute (unten rechts), die man auf den ganzen Kreis der Vollfarben ausweiten kann. Dabei entsteht ein Doppelkegel, der die Gesamtheit aller Farben des Ostwald-Systems in sich vereinigt (oben rechts). Eine sehr gute praktische Verwirklichung dieser Konstruktion liegt als «Color Harmony Manual» vor, das 1948 (in dritter Auflage) erschienen ist.
Das Wort «Harmonie» im Titel des zitierten Handbuchs stellt Ostwalds Ziel seiner Beschäftigung mit der Farbe dar. Erfahrungen haben ihm (und anderen) gezeigt, daß einige Kombinationen von Farben als angenehm (oder harmonisch) und andere als unangenehm empfunden werden. Die Frage lautet, wovon dies abhängt und ob dies als Gesetz gefaßt werden kann. Ostwald geht bei seiner Analyse der Farbharmonie von der Grundüberzeugung aus, daß sie durch Farbordnung zustande kommt. Er führt sogar ihre Identität als Gesetz auf (Harmonie = Ordnung) und behauptet, alle Harmonien finden zu können, indem er alle Ordnungen analysiert, die sein Farbkörper, der Doppelkegel, zuläßt, und zwar nach den Regeln der Geometrie. Sie werden von 1926 an — zuerst noch durch Ostwald selbst — zunächst in einer «Harmothek» zusammengestellt und finden später Eingang in das bereits erwähnte Color Harmony Manual.
Es steht uns nicht an, Ostwalds Harmonielehre zu kritisieren, aber es scheint, daß sie nicht sehr überzeugend wirkt. Vermutlich muß man sich mit der Tatsache abfinden, daß die Wissenschaft keinerlei Informationen über harmonische Kombinationen von Farben — anders als von Tönen — liefert. Licht und Ton sind verschiedene Wellenformen, das Auge hat — im Vergleich zum Ohr — nur rudimentäre Fähigkeiten der vergleichenden Analyse, und zudem sehen wir kaum mehr als eine Oktave (nur gerade so weit dehnt sich das sichtbare Spektrum aus). Es scheint auch keine physikalische oder physiologische Basis für die Annahme zu geben, daß einzelne Farbkombinationen mehr oder weniger wünschenswert sind. So herrlich ein Regenbogen auch ist, noch niemand ist auf den Gedanken gekommen, ihn dadurch zu verbessern, daß man eine Komponente wegnimmt oder hinzufügt.