Eine Doppelpyramide wird vorgestellt, deren Grundfläche durch die vier Urfarben von Hering markiert wird. Die Ecken werden dabei abgerundet, da die Umschlagpunkte in der Wahrnehmung nicht scharf definiert sind. Zusätzlich wird das Basisquadrat gekippt, damit das helle Gelb näher bei der weißen Spitzen zu liegen kommt und das dunkle Blau dichter an das schwarze Ende heranrücken kann. Die Ebbinghaussche Doppelpyramide stellte lange Zeit die letzte Festung der Phänomenologie gegen die immer stärker sich ausbreitende Physiologie und ihre Behandlung des Nervensystems dar. Mit Ebbinghaus ging die Zeit zu Ende, in der die Farben einfach waren. Gleichzeitig ging in der Physik die Zeit zu Ende, in der man sicher sein konnte, die Natur des Lichtes verstanden zu haben. (Ausführlicher Text)
Mit dem beginnenden 20. Jahrhundert gewinnt die Doppelpyramide Anhänger. Auch der deutsche Wahrnehmungspsychologe Hermann Ebbinghaus (1850-1909) konstruiert ein Farbsystem auf dieser Grundlage. Er rundet es allerdings ab und legt zusätzlich die mittlere Ebene schief. Der dabei entstehende Farbkörper mit den vier Primärfarben Rot, Gelb, Grün und Blau verbindet die Idee von Leonardo da Vinci mit der Einsicht, daß die chromatischen Farben in ihrer Helligkeit variieren und dadurch unterschieden werden können. Neben dem Farbkörper selbst zeigen wir einige Projektionen etwa auf die Ebenen Gelb-Blau oder Rot-Grün, um die Differenzierungen zu zeigen, die mit der Pyramide möglich sind.
Das Grundquadrat des Doppelkörpers ist so gekippt, daß die besten Gelbtöne, die relativ hell sind, näher beim Weiß zu liegen kommen, und die besten Blautöne, die relativ dunkel sind, näher zum Schwarzen gelangen. Ebbinghaus schleift die Ecken seines Körpers im übrigen ab, weil die Wendepunkte nicht scharf definiert sind. Sein System sagt keine Mischungen von Farben voraus. Es ist eine rein phänomenologisch orientierte Darstellung von Farben, in der sich die komplementären Paare nicht gegenüberliegen.
Ebbinghaus hatte 1893 in der «Zeitschrift für Psychologie» eine «Theorie des Farbensehens» publiziert, in der er unter anderem darauf hinweist, daß die Wahrnehmung von Farben nur mit Hilfe von «höheren geistigen Prozessen» gelingen kann. Er kannte als Psychologe schließlich die vier elementaren Farbempfindungen, verstand aber auch, daß die Physiologen etwas in der Hand hielten und es in der Netzhaut des Auges nur drei photosensible Substanzen gibt, mit denen die Erscheinungen des Farbensehens und die Anomalien zu erklären sind. Ebbinghaus hatte zudem entdeckt, daß zwei Weißtöne, die Farbkreisel aus Rot und Grün beziehungsweise Blau und Gelb zustande brachten, zwar bei einer bestimmten Helligkeit gleich erschienen, aber anders aussehen, wenn die Beleuchtung vermindert wurde.
Die Ebbinghaussche Doppelpyramide stellte lange Zeit die letzte Festung der Phänomenologie gegen die immer stärker sich ausbreitende Physiologie und ihre Behandlung des Nervensystems dar. In der Farbpyramide sollte sich wenigstens eine Tatsache zeigen, die unabhängig von Lichtreiz und physiologischer Reaktion ist. Doch im Verlauf der folgenden Jahre haben die Phänomenalisten immer stärker den Experimentalisten das Feld überlassen müssen. Mit Ebbinghaus ging die Zeit zu Ende, in der die Farben einfach waren.
Zur gleichen Zeit ging in der Physik die Zeit zu Ende, in der man sicher sein konnte, die Natur des Lichtes verstanden zu haben. Rund 100 Jahre nachdem der Engländer Young mit seinen Interferenzversuchen den Wellencharakter des Lichtes scheinbar eindeutig nachgewiesen hatte, zeigte eine genaue Analyse der Wechselwirkung zwischen Strahlung und Materie, daß es auch Lichtteilchen geben mußte. Albert Einstein war der erste, der offen daraufhinwies (wofür ihm später der Nobelpreis für Physik verliehen wurde) und dabei erkannte, daß seiner Wissenschaft damit ein Fundament entzogen worden war, auf dem sie lange Zeit sicher geruht hatte. Einstein sprach von der Dualität des Lichtes, als die Sprache der Experimente immer deutlicher zum Ausdruck brachte, daß seine Eigenschaften sowohl durch das Bild einer Welle als auch durch die Vorstellung von Teilchen — sogenannten Photonen — gefaßt werden mußten, um sie anschaulich umfassend zu verstehen.
Nun kommen Farben erst zustande, nachdem Licht mit (biologischer) Materie in wechselwirkende Verbindung getreten ist, und der Schluß ist nicht zu vermeiden, daß es genau genommen die Photonen sind, die unsere Netzhaut in die Lage versetzen, dem Gehirn zu melden, welche Farbe es vor sich hat. Doch so sorgfältig brauchen wir die Physik nicht zu berücksichtigen, wenn es um Farbsysteme geht. Für unsere Zwecke reicht die Vorstellung aus, daß es Wellen sind, die im Auge absorbiert werden. Was danach im Gehirn passiert, ist noch kompliziert genug.
Datierung: Der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus erläutert seine Vorstellungen von der Farbe im Jahre 1902.
Herkunft: Deutschland
Grundfarben: Rot, Gelb, Grün und Blau
Form: Doppelpyramide
Referenzsysteme: Grosseteste, Alberti, da Vinci — Sowerby — Hering — Luther & Nyberg
Literatur: H. Ebbinghaus, «Grundzüge der Psychologie», Berlin 1902; H. Ebbinghaus, «Theorie des Farbensehens», Zeitschrift für Psychologie 5, 33-54 (1893).