Hering geht es in erster Linie um die Introspektion der Farben, und er hatte sich lange Zeit auch mit dem Raumsinn des Auges beschäftigt. Er wies in seinen Arbeiten zur Farbe auf das Problem hin, das zum Beispiel Gelb in dem Dreierschema hat. Helmholtz zufolge müßte Gelb als Mischung aus Rot und Grün zustande kommen, und dies so stellte Hering fest stimmt mit der menschlichen Erfahrung nicht überein. Die Empfindung Gelb ist elementar und nicht auf eine Mischung zurückführbar. Hering konstatiert, daß es neben Schwarz und Weiß genau vier Farben gibt, «die ohne jeden Beigeschmack einer anderen Farbe vorkommen können», und er schlägt vor, daß «jede Gesichtsempfindung» als «Gemisch der sechs Grundempfindungen» verstanden werden kann, die sich als Opponenten gegenüberstehen und auf diese Weise zusammenwirken. (Ausführlicher Text)
In der Mitte des 19. Jahrhunderts galt es als ausgemacht, daß drei und nur drei Variable — drei Rezeptoren — erforderlich sind und ausreichen, um die Farbmischungen zu erklären, mit denen 1859 James Maxwell (Textstelle) und 1867 Hermann von Helmholtz (Textstelle) experimentiert hatten. Die heutigen Physiologen können dies nur bestätigen, nachdem die modernen Formen ihrer Wissenschaft — die Neuro- und die Elektrophysiologie — bestätigt haben, daß es drei Arten von Molekülen (Fotorezeptoren) gibt, die besonders empfindlich auf kurze, mittlere und lange Wellen reagieren. Mit dieser Beobachtung kann man erklären, warum einige Verteilungen von Wellenlängen im einfallenden Licht nicht von anderen Verteilungen unterschieden werden können (warum also viele Mischungen dieselben Farben ergeben), man kann aber nicht die Farbtöne erklären, die wir wahrnehmen.
Helmholtz nahm an, daß jeder der drei von ihm postulierten Rezeptoren direkt einen bestimmten Farbton signalisiert. Daher nannte er die Rezeptoren «Blau», «Grün» und «Rot», und er glaubte, daß zum Beispiel der blaue Rezeptor die Empfindung Blau hervorruft, und entsprechendes gilt für die anderen Fälle. Ihm war dabei natürlich klar, daß die spektrale Empfindlichkeit der Rezeptoren überlappen mußte, so daß jede Wellenlänge verschiedene Verhältnisse (und eine andere Wahrnehmung) nach sich zog. Dieser Ansicht über die Erscheinung der Farben widersprach der Physiologe Ewald Hering (1834-1918), der der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien zwischen 1872 und 1874 «sechs Mittheilungen» «Zur Lehre vom Lichtsinne» machte, die 1878 geschlossen publiziert wurden. (Nach 1905 veröffentlichte Hering noch «Grundzüge der Lehre vom Lichtsinn». Sie erschienen in vier Lieferungen, von denen die ersten drei mitten in einem Satz abbrachen. Jahrelang mußten die Leser danach auf das Verb warten.)
Hering geht es mehr um die Introspektion der Farben, und er hatte sich lange Zeit auch mit dem Raumsinn des Auges beschäftigt. Er wies in seinen Arbeiten zur Farbe auf das Problem hin, das zum Beispiel Gelb in dem Dreierschema hatte. Helmholtz zufolge müßte Gelb als Mischung aus Rot und Grün zustande kommen, und dies — so stellte Hering fest — stimmt mit der menschlichen Erfahrung nicht überein. Die Empfindung Gelb ist elementar und nicht auf eine Mischung zurückführbar. Hering wies weiter darauf hin, daß niemals Mischungen von Rot und Grün auftreten. Sie löschen sich vielmehr aus. Ein rotes Grün ist einfach undenkbar.
Hering zog daraus den Schluß, daß es nicht drei, sondern vier elementare Farbempfindungen oder psychologische Primärfarben gibt, die unsere Wahrnehmung durch opponente Prozesse kodieren, wie wir heute sagen. «Gelb kann in’s Rothe oder in’s Grüne, nicht aber in’s Blaue, Blau nur entweder in’s Rothe oder in’s Grüne, Roth nur entweder in’s Gelbe oder in’s Blaue spielen. Die vier Farben», schreibt Hering 1878, «kann man also mit vollem Rechte, wie dies schon Leonardo da Vinci getan hat, als einfache oder Grundfarben bezeichnen. Deshalb hat auch die Sprache für sie einfache und nicht von farbigen Naturkörpern entlehnte Bezeichnungen, mögen dieselben ursprünglich entlehnt worden sein oder nicht.»
Hering selbst spricht bei den opponenten Paaren, die allen Farbtönen des sichtbaren Lichtes Rechnung tragen, noch von «antagonistischen Lichtarten», «welche zusammen Weiß geben», das heißt, «sie ergänzen sich nicht zu Weiß, sondern lassen dieses nur rein hervortreten, weil sie als Antagonisten sich gegenseitig ihre Wirkung unmöglich machen». Weiß war für ihn dabei «eine Empfindung eigener Art, ebenso wie Schwarz, Roth, Grün, Gelb oder Blau». Daher hat Hering noch zusätzlich einen schwarz-weiß-opponenten Prozeß postuliert, um die Helligkeit berüchsichtigen zu können. Insgesamt gibt es somit sechs fundamentale Farbtöne.
Hering hebt seine «Lehre vom Lichtsinne» ausdrücklich von den Kenntnissen der Physik ab. Die Behauptung, daß Rot und Grün beziehungsweise Blau und Gelb zusammen Weiß ergeben, mache «nur Sinn, wenn man unter Roth und Grün nicht Empfindungen, sondern Ätherschwingungen versteht.»
Experimente, bei denen Personen gebeten werden, einen farbigen Lichteindruck zu beschreiben, bestätigen Herings Opponenten-Theorie heute überzeugend. Genau dann, wenn den Probanden vier Ausdrücke — eben Rot, Grün, Gelb und Blau — zur Verfügung stehen, können sie jede Farbe durch eine geeignete Zusammenstellung beschreiben. Es gibt in der Tat vier (und nicht drei) fundamentale Farbtöne (die neurophysiologischen Beweise dafür liegen seit 1966 vor; sie werden an anderer Stelle behandelt), und sie stehen sich in Herings Farbsystem gegenüber, das ein Kreis aus opponenten Ringen ist. Wir stellen ihn mit den vier Grundfarben Gelb (Yellow, Y), Rot (Red, R), Blau (Blue, B) und Grün (Green, G) rechtwinklig zueinander angeordnet vor. Die gestrichelten Linien weisen auf Mischungen im Verhältnis 50:50 hin: Gelbrot (YR), Rotblau (RB), Blaugrün (BG) und Grüngelb (GY). In einer weiteren Abbildung haben wir den Opponentenkreis zu einem Band gestreckt.
Herings Farbordnung, die er «das natürliche System der Farbempfindungen» nannte, bildet die Grundlage des Systems, das sich heute mit den drei Buchstaben NCS präsentiert, die als Abkürzung für «Natural Colour System» stehen. Die Abfolge des Farbenkreises zeigt die Position der vier «elementaren» Farben und die Proportionen, womit zwei Elementarfarben Mischungen bilden können.
Herings Opponenten-Theorie wurde nicht akzeptiert und vor allem von Helmholtz’ Schülern kritisiert. Ihre Argumentation machte darauf aufmerksam, daß Herings Vorschlag nur Sinn macht, wenn es zwei unterschiedliche Prozesse im Nervensystem gibt, nämlich erregende und hemmende Vorgänge. Was heute selbstverständlich ist, mußte zu Herings Zeit erst noch erarbeitet und bewiesen werden. Die Farbwahrnehmung ist seitdem nicht übersichtlicher geworden. Aber dies braucht niemanden davon abzuhalten, die Wahrnehmung von Farben zu genießen.
Datierung: 1878 legt der Physiologe Ewald Hering in Wien seine «Lehre vom Lichtsinn» vor, die sich gegen ein rein physikalisches Verständnis der Farben wendet.
Herkunft: Österreich
Grundfarben: Blau, Rot, Gelb und Grün
Form: Kreis
Referenzsysteme: Pythagoras, Aristoteles, Platon — Maxwell — Helmholtz — Blanc — Höfler — Boring — Birren — Johansson — Hesselgren — N.C.S. — C.I.E.L.A.B. — Albert-Vanel
Literatur: E. Hering, «Zur Lehre vom Lichtsinn», Wien 1878; G. A. Agoston (Abb. historisches System), «Color Theory and Its Application in Art and Design», Heidelberg 1979; S. Hesselgren, «Why Colour Order Systems?», Color Research and Application 9, 220 – 226 (1984).