Von Bezold denkt trotz aller Einbeziehung der Wissenschaft und ihrer Quantifizierung vor allem an Kunst und Kunstgewerbe, und er will mit seinem System den Malern und Färbern Hilfe bieten. Ein Farbenkegel wird vorgeschlagen, auf dessen Mantel die vollkommen gesättigten Farben in verschiedenen Helligkeitsstufen liegen, die zu einer schwarzen Spitze hin dunkler werden. Der Grundkreis wird in zwölf Segmente aufgeteilt, die unterschiedlich groß sind, wobei Grün den größten und Rot den kleinsten Platz eingeräumt bekommt. (Ausführlicher Text)
Wilhelm von Bezold (1837-1907) war Professor für Meteorologie in München und Direktor des Preußischen Instituts für die Wetterkunde. Als Wissenschaftler interessierte ihn vor allem die Physik der Atmosphäre, und er hat sich dabei um die Gewitterlehre verdient gemacht. Sein Onkel Gustav war ein bekannter Kunsthistoriker, und vielleicht läßt sich so die Tatsache verstehen, daß 1874 eine «Farbenlehre im Hinblick auf Kunst und Kunstgewerbe» erscheint, in der Wilhelm von Bezold ein Farbsystem in Kegelform vorstellt, das zwar an die Pyramide von Lambert erinnert, aber anders konzipiert ist, und zwar äquivalent zu der Halbkugel, die Chevreul vorgelegt hat. Von Bezold schreibt:
«In einem solchen Farbenkegel kann man (…) alle nur denkbaren Farben, das heißt alle Farbtöne, zu deren Empfindung unser Auge befähigt ist, unterbringen. Auf dem Mantel enthält der Kegel nur vollkommen gesättigte Farben in ihren verschiedenen Helligkeitsstufen.» Und weiter: «Will man sich einen solchen Kegel wirklich mit Hilfe von Farbstoffen herstellen, so muß man sich natürlich den äußersten Mantel, welcher die Spektralfarben, das heißt die vollkommen reinen Farben, enthält, noch hinzudenken, da auch die äußersten Pigmente von vollkommener Reinheit noch weit entfernt sind.»
Der Farbkegel von Bezold trägt das Weiße im Zentrum eines Kreises, der die Basis bildet. Zur Spitze des Kegels hin verdunkeln sich die Farben, bis das Schwarz erreicht wird. Den Kreis selbst entnimmt er der Erfahrung, denn «man kann nämlich die sämtlichen Töne in eine in sich zurücklaufende Reihe bringen, wenn man zwischen Violett und Rot die Purpurfarben einschaltet, man kann sie mithin auch auf einer geschlossenen Linie, am einfachsten auf den Umfang eines Kreises auftragen und so versinnlichen».
(In der zweiten Auflage der Farbenlehre von Wilhelm von Bezold, die fast ein halbes Jahrhundert später, im Jahre 1921, erschien, hat der Herausgeber, W. Seitz, starke Eingriffe vorgenommen. Der Bezoldsche Kegel wurde zum Beispiel einfach gegen den Doppelkegel von Wilhelm Ostwald
ausgetauscht, den wir später erläutern.)
Neben dem Kegel stellt von Bezold einen besonderen Farbenkreis vor, den er als einen Ausschnitt ansieht, nämlich als «ein Stück der wahren Farbentafel, welche sich der Gestalt eines Dreiecks nähert, in dessen Ecken die Farben Roth, Grün und Blauviolett ihren Platz finden». Er orientiert sich also stark an den drei Primärfarben Blau, Grün und Rot, die Hermann von Helmholtz und James Clerck Maxwell in ihrer Dreifarbentheorie wissenschaftlich begründet und populär gemacht hatten und von der aus der Schluß auf ein Dreieck als die wahre Farbentafel gezogen wurde. Von Bezold erwähnt seine beiden Vorbilder und ihre Leistungen im Vorwort von 1874. Er erinnert daran, daß es Helmholtz war, der zuerst zwischen der (additiven) Mischung von Lichtstrahlen und der (subtraktiven) Mischung von Farbstoffen unterschieden hat, und daß es Maxwell zu verdanken ist, die Gesetze der «wahren Farbenmischung mit Hilfe überzeugender Experimente festgestellt» zu haben. Erst nach ihren Untersuchungen sei die physikalische und physiologische Seite der Farbenlehre hinlänglich ausgebildet, «um als Grundlage für praktisch ästhetische Untersuchungen dienen zu können». Nun sei es an der Zeit, den Versuch zu unternehmen — und Bezold hat dabei sein eigenes Werk im Auge -, «die Lehre von der Farbengebung in ähnlicher Weise auf fester Grundlage zu errichten und sie als ebenbürtige Schwester den beiden anderen Wissenschaften an die Seite zu stellen»: gemeint sind Anatomie und Geometrie, die beide für die Kunst von Bedeutung sind.
Sein eigener Farbenkreis ist deshalb «mit Hülfe des Farbendreiecks construirt, das heißt, er ist ein Ausschnitt aus demselben, beziehungsweise als Vergrößerung des in das Farbendreieck eingezeichneten kleinen Kreises zu betrachten. Auf dem Umfange sind Striche angebracht, welche die Schwingungszahlen angeben, und zwar in der Art, daß man beim Fortschreiten von einem Striche zum benachbarten zu einer Farbe gelangt, welche in der Secunde 10 Billionen Schwingungen mehr macht als die vorhergehende. (…) Schon die bloße Verteilung dieser Striche, welche eine Versinnlichung des scharf mathematisch gefaßten Mischungsgesetzes in sich bergen, deutet auf das eigenthümliche Verhältnis der drei Farben Roth, Grün und Blauviolett.»
Von Bezold denkt trotz aller Einbeziehung der Wissenschaft und ihrer Quantifizierung vor allem an Kunst und Kunstgewerbe, und er will mit seinem Kreis den Malern und Färbern Hilfe bieten. Selbst wenn es genaue Untersuchungen und der Ordnungssinn nahelegen, daß «auf gleichen Strecken des Kreisumfanges eine ungefähr gleiche Zahl von eben noch unterscheidbaren Tönen sich aneinanderschließt, so hat man doch den Eindruck, daß der Ton im Gebiet von Blau und Grün sich viel langsamer ändert als in dem des Purpur und Violett». Er unternimmt folglich den (links angedeuteten) Versuch, «den Kreis so in Farbgruppen einzuteilen, daß der Charakter benachbarter Gruppen dem Auge gleich große Unterschiede darzubieten scheint». Die zum Grünen hin zunehmenden Töne sind im einzelnen: Purpur (Purple), Carminrot (Carmin), Zinnober (Vermillon), Orange (Orange), Gelb (Yellow), Grüngelb (Yellovish green), Grün (Green), Blaugrün (Bluish green), Eisblau (Turquoise blue), Ultramarin (Ultramarin), Blauviolett (Bluish violet) und Purpurviolett (Purpish violet). Dem größten Sektor Grün stehen dabei mehrere «ergänzende Farben» gegenüber.
Die Buchstaben, die entlang des inneren Kreisumfangs notiert sind, bezeichnen musikalische Noten und stehen mit einem Versuch in Verbindung, die Lehre von den «chromatischen Äquivalenten» zu widerlegen, die auf George Field zurückgeht. Wir wollen beides hier auf sich beruhen lassen, obwohl von Bezold viel Mühe darauf verwandte, nach einem Zusammenklang der Farben zu suchen. Er bemühte sich, harmonische Triaden durch die Konstruktion gleichseitiger Dreiecke zu finden, die um die weiße Mitte zu legen waren. Gezeigt wird ein Dreieck, das das Blauviolette und das Zinnober mit dem Grün verknüpft. Daß seine Spitze nicht ganz auf den grünen Sektor reicht, zeigt eine grundsätzliche Beschränkung von Systemen, die meinen, die Metrik der Farben sei durch eine Geometrie des Raumes zu fassen. Farbordnungen müssen dreidimensional sein, aber ihre Struktur muß nicht anschaulich einfach sein. Diesen Gedanken setzt aber erst das System des amerikanischen Malers Henry Munsell um, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorgelegt wird.
Von Bezold hat zwar kein umfassend akzeptiertes Farbsystem vorlegen können — er betont dafür die blauen und violetten Töne zu stark -, aber sein Name bleibt in der heutigen Physiologie der Sinne durch das sogenannte Bezold-Brücke-Phänomen lebendig. Er hatte Glühbirnen durch Farbfilter betrachtet und dabei beobachtet, daß die hellste Stelle der Birne zum Beispiel durch ein Rotfilter gelblich und durch ein Blaugrünfilter grünlich verfärbt wird. Die Farbe, die man sieht, hängt also — bei hohen Werten — von der Leuchtstärke ab. Gedeutet wird diese Verschiebung der Wahrnehmung heute durch die Annahme, daß bei den höchsten Intensitäten — an der hellsten Stelle eben — im Auge die maximal erregten Sehzellen gesättigt sind und damit nur noch relativ wenig zur Farbempfindung beitragen.
Der mitgenannte Brücke hatte übrigens in den Jahren zuvor versucht, die Physiologie der Farben in eine Ästhetik einmünden zu lassen. Von Bezold wagte mit seinem Buch einen zweiten Versuch, der ihm umso dringlicher erschien, da Goethes Farbenlehre — wie er meinte — «auf die Entwicklung der Wissenschaft keinen bleibenden Einfluß äußerte und schon längst vortreffliche Widerlegungen gefunden hat». Vor gut einhundert Jahren konnte man dies noch schreiben, ohne auf Widerspruch zu stoßen. Inzwischen haben die Wissenschaftler es auch besser verstanden.