Das Ziel des Systems besteht darin, die Gesetze der Farbkontraste zu finden. Natürlich hatte spätestens Leonardo da Vinci bemerkt, daß sich Farben gegenseitig beeinflussen, wenn sie nebeneinander gesehen werden, aber es war dann erst Goethe, der gezielt auf die dazugehörenden Kontraste aufmerksam gemacht hat. Chevreul konstruiert einen 72teiligen Farbenkreis, dessen Radien neben den drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau drei primäre Mischungen Orange, Grün und Violett und sechs weitere sekundäre Mischungen darstellen. Die dabei auftretenden Sektoren werden in jeweils fünf Zonen und alle Radien in 20 Abschnitte unterteilt. Hier finden sich die verschiedenen Stufen der Helligkeit. Wir treffen hier übrigens zum ersten Mal auf eine aktive Rolle des Gehirns bei der Entstehung der Farben, und wir können uns schon einmal an den Gedanken gewöhnen, daß die Farben auch Taten der Welt in unserem Kopf sind. (Ausführlicher Text)
Vermutlich hat kaum ein Chemiker so viel Einfluß auf die Entwicklung der Kunst ausgeübt wie der Franzose Michel Eugène Chevreul (1786-1889), der umfassende Talente besaß und 1824 zum Direktor in der berühmten Gobelin-Teppichmanufaktur ernannt wurde. Hier konzentrierte sich Chevreul auf die Probleme der Färberei und damit auf Farben, und 1839 erscheint sein umfassender Versuch, ihrer Ästhetik eine systematische Grundlage zu geben. Er trägt den Titel «De la loi du contrast simultané des couleurs» (Abb. historisches System) und handelt also vom sogenannten Simultankontrast der Farben. Mit diesem Werk beeinflußte Chevreul die Richtungen der Kunst, die als Impressionismus, Neoimpressionismus und Orphischer Kubismus bezeichnet werden, wobei es hier vor allem Robert Delaunay (1885-1941) ist, der farbige «Simultanscheiben» bildnerisch verwendet. Obwohl sein Werk unpraktisch bleibt und nie abgeschlossen wird, beeinflußt Chevreul auch die Ansichten, die Eugène Delacroix (1798-1863) und Georges Seurat (1859-1891) zu den Farben und der Art haben, wie sie mit ihnen umgehen.
Natürlich hatte spätestens Leonardo da Vinci bemerkt, daß sich Farben gegenseitig beeinflussen, wenn sie nebeneinander gesehen werden, aber es war dann erst Goethe, der gezielt auf die dazugehörenden Kontraste aufmerksam gemacht und sie so eindringlich beschrieben hat, daß sie fortan beachtet werden. Wer gleichzeitig (simultan) dasselbe Rot etwa auf einem gelblichen und auf einem violetten Hintergrund ansieht, wird zwei verschiedene Empfindungen haben — im ersten Fall eher Dunkelrot und im zweiten Fall eher Orange. Chevreul konnte dabei zwei Weisen unterscheiden, mit denen dieser Simultankontrast zustande kam, und er sprach von Änderungen der Intensität beziehungsweise der «optischen Komposition». Heute wissen wir genauer, daß es drei Komponenten sind, die sich unter dem Einfluß einer andersfarbigen Umgebung verschieben können, und diese drei Komponenten entsprechen den Dimensionen einer räumlichen Farbordnung. Sie heißen Helligkeit, Farbrichtung und Buntheit. Ein- und dieselbe Farbe wirkt auf dunklem Grund heller und auf hellem Grund dunkler; ein reines Rot wirkt auf gelblichem Grund röter und auf rötlichem Grund gelber, und ein vergrautes Rot wirkt auf einem grauen Grund bunter (weniger grau) als auf einem bunten Grund.
Man kann diese simultane Wechselwirkung der Farben mit Hilfe der Farbenkreise beziehungsweise der Farbenkugel dann einfach nachvollziehen oder deuten, wenn man annimmt, daß die Farbe des Hintergrunds die Farbe des betrachteten Farbfeldes von sich wegstößt. Konkret durchführen muß dies natürlich unsere Wahrnehmung, und da hierfür sicher die Annahme plausibel ist, daß sich Auge und Gehirn darum bemühen, die Unterschiede in der Natur möglichst deutlich wahrzunehmen, paßt die Erklärung mit der Verschiebung im Farbenkreis zusammen.
Wir treffen hier zum ersten Mal auf eine aktive Rolle des Gehirns bei der Entstehung der Farben, und wir können uns schon einmal an den Gedanken gewöhnen, daß die Farben auch Taten der Welt in unserem Kopf sind, wie noch genauer vorzustellen ist, wenn mehr Beiträge der Physiologie gefragt sein werden.
Kehren wir zu Chevreul zurück, der in seinem Werk aus dem Jahre 1839 zeigt, daß eine Farbe ihrer benachbarten einen komplementären Stich (im Farbton) gibt. Als Konsequenz hellen sich gegenüberstehende komplementäre Farben auf und nicht-komplementäre Farben erscheinen «verdreckt», etwa wenn ein Gelb neben einem Grün einen Violett-Stich bekommt.
Die Gesetze der Farbkontraste beschäftigten Chevreul während seiner Suche nach einer guten Farborganisation, die er für die Herstellung von Textilien benötigte. Dazu entwarf er den vorgestellten 72teiligen Farbenkreis, der Farbtöne durch die verschiedenen Veränderungen definiert, die eine Farbe in Richtung auf Weiß (höhere Intensität) oder Schwarz (schwächere Intensität) erfährt. Dabei sind gemäß Chevreul 10 Stufen möglich.
Bei Chevreuls Farbenkreis finden wir neben den drei subtraktiven Primärfarben (Rot, Gelb und Blau) drei sekundäre Farben (die primären Mischungen Orange, Grün und Violett) sowie sechs sekundäre Mischungen. Die dabei entstehenden Sektoren werden in fünf Zonen gegliedert, und jeder Radius ist nach Art einer Leiter in 20 Abschnitte unterteilt, die verschiedene Helligkeitsstufen angeben. Die Notation gibt die Proportionen der Farben wieder. So bedeutet 9B/1C, daß 9/10 Schwarz (Black) und 1/10 des entsprechenden Farbtons (Color) vorliegen.
Mit der Halbkugel versucht Chevreul eine physikalische Repräsentation der Farben im Raum. Die Schwarz-Achse wird dabei zum Strahl, der die verschiedenen Stufen absuchen kann.
Chevreul war davon überzeugt, daß sich die vielen verschiedenen Farbtöne und ihre Harmonie durch Beziehungen zwischen Zahlen festlegen lassen, und er wollte mit seinem Farbsystem allen Künstlern, die farbiges Material verwenden, ein entsprechendes Instrument in die Hand geben. Doch so einflußreich die Harmonielehren auch waren, die Chevreul als «Harmonie d’analogues» («Harmonie der Analogie») und als «Harmonie de contraste» («Harmonie des Kontrastes») bezeichnet hat, ein Gesetz der Farbharmonie hat er nicht finden können. Es existiert einfach nicht.
Datierung: Der Chemiker Michel Eugène Chevreul legt 1839 seinen (nicht vollendeten) Versuch einer systematischen Farbästhetik vor.
Herkunft: Frankreich
Grundfarben: Rot, Gelb und Blau
Form: Halbkugel, Kreis
Anwendung: Farborganisation bei Herstellung von Textilien.
Referenzsysteme: Field — Benson — Bezold — Wundt — Blanc
Literatur: M. E. Chevreul, «De la loi du contraste simultané des couleurs et de l’assortiment des object colorés», Paris 1839; A. Hope und M. Walsh, «The Color Compendium», New York 1990; John Gage, «Kulturgeschichte der Farbe: von der Antike bis zur Gegenwart», Ravensburg: Maier, 1994, Seiten 173-176.