100 Jahre nach Newton befaßte sich Johann Wolfgang Goethe (1749 -1832) mit Problemen der Farbe, und obwohl er hoffte, mit seiner «Farbenlehre» durch Einbeziehung aller Zweige der Naturlehre eine «vollkommenere Einheit des physischen Wissens» zu erreichen, ging er das Thema zunächst an, um «in Absicht auf Kunst» etwas über die Farben zu gewinnen. Und als sich Goethe an die «Geschichte der Farbenlehre» setzte, hoffte er, damit eine «Geschichte des menschlichen Geistes im Kleinen» liefern zu können, wie er 1798 an Wilhelm von Humboldt schrieb.
Goethes erste «Beiträge zur Optik» stammen aus dem Jahre 1791, nachdem ihm bereits auf der Italienreise die Schwierigkeiten aufgefallen waren, die lebende Künstler mit dem Kolorit und der Harmonie der Farben hatten: «Ich hörte zwar von kalten und warmen Farben, von Farben, die einander heben, und was dergleichen mehr war, aber alles drehte sich in einem wunderlichen Kreise (…) durcheinander.»
Zwischen 1790 und 1823 bringt Goethe etwa 2000 Seiten über Farben zu Papier, von denen die meisten zwischen 1808 und 1810 unter dem Titel «Zur Farbenlehre» erscheinen. Er entwickelt sein System dabei aus dem elementaren Gegensatz von Hell und Dunkel heraus (der bei Newton keine Rolle spielt). In seiner Schrift «Über die Einteilung der Farben und ihr Verhältnis zueinander» stellt Goethe fest, daß nur Gelb und Blau als ganz reine Farben, «ohne an etwas anderes zu erinnern, von uns wahrgenommen werden.» Das der Helligkeit am ehesten vergleichbare Gelb («zunächst am Licht») und das der Dunkelheit am meisten verwandte Blau («zunächst an der Finsternis») sind die beiden Gegenpole, zwischen denen sich dann alle anderen Farben gruppieren lassen.
1793 skizziert Goethe seinen Farbenkreis, in dem er das Ausgangspaar Gelb (Giallo) und Blau (Blu) nicht in gegensätzlicher Position anordnet, sondern zusammen mit einem ursprünglich als Purpur bezeichneten Rot (Rosso) zum Dreieck erweitert. Er bezeichnet «diesen Effekt Roth» als «höchste Steigerung» der von Gelb nach Blau führenden Farbenreihe und stellt ihm das Grün (Verde) gegenüber, das durch die Mischung von Gelb und Blau entsteht. Der Kreis wird vollständig zum einen durch ein Orange (Arancio) auf der aufsteigenden Seite, das Goethe noch Gelbrot nannte, und zum anderen durch ein Blaurot (Porpora) auf der absteigenden Seite, das oft auch als Violett bezeichnet wird (Abb. Originalzeichnung Goethe).
Neben dem Kreis stellen wir in verschiedenen kleineren Dreiecken einige der möglichen internen Aufgliederungen des großen Dreiecks heraus. Im ersten Fall sieht man die Folge Primärfarbe (1.1), Sekundärfarbe (1.2) und Tertiärfarbe (1.3). Im zweiten Fall deuten wir an, was Goethe «sinnlich-sittlich» gesehen als Kraft (2.1), Heiterkeit (2.2) oder Melancholie (2.3) deutete (mehr dazu im folgenden Abschnitt). Der dritte Fall hebt die drei Achsen der komplementären Farben hervor, die rote (3.1), die gelbe (3.2) und die blaue (3.3) Achse. Zuletzt betonen wir noch Helligkeit (4.1) und Strenge (4.2).
Goethe nannte den vom Gelb zum Rot laufenden Teil seines Farbkreises die Plusseite und seine Fortsetzung zum Blau hin die Minusseite. Dabei traf er folgende Zuordnungen: Das Gelb wurde mit «Wirkung, Licht, Hell, Kraft, Wärme, Nähe, Abstoßen» und das Blau mit «Beraubung, Schatten, Dunkel, Schwäche, Kälte, Ferne, Anziehen» in Verbindung gebracht. Damit deutet sich an, daß Goethes Absicht vor allem darin bestand, die «sinnlich-sittliche Wirkung» der einzelnen Farbe «auf den Sinn des Auges (…) und durch dessen Vermittlung auf das Gemüt» zu ermitteln. Er versteht Farben in erster Linie «als Bewußtseinsinhalte von sinnlichen Qualitäten» und verlagert seine Analyse in das Gebiet der Psychologie. Die Farben der Plusseite «stimmen regsam, lebhaft, strebend», Gelb wirkt «prächtig und edel» und macht einen «warmen und behaglichen Eindruck». Die Farben der Minusseite «stimmen zu einer unruhigen, weichen und sehnenden Empfindung», und das Blau selbst «gibt uns ein Gefühl der Kälte.»
Mit der Einsicht in die sinnlich-sittliche Wirkung der Farben kommt Goethe seinem anfänglichen Ziel näher, nämlich die ästhetische Seite aus dem Durcheinander zur Ordnung zu führen. Er begreift ein Kolorit in den Kategorien des Mächtigen, des Sanften und des Glänzenden und stellt folgende Konzeption auf: Die mächtige Wirkung kommt zustande, wenn Gelb, Gelbrot und Purpur überwiegen, und das Sanfte wird vor allem vom Blau und seinen Nachbarn bestimmt. Sind «alle Farben nebeneinander im Gleichgewicht», entsteht ein harmonisches Kolorit, das sowohl das Glänzende als auch das Angenehme hervorbringen kann. (Der Philosoph Ludwig Wittgenstein notiert dazu übrigens in seinen «Bemerkungen über Farben»: «Ich bezweifle, daß Goethes Bemerkungen über die Charaktere der Farben für einen Maler nützlich sein können. Kaum für einen Dekorateur.»)
Wer diesen sehr kurzen Streifzug durch Goethes Farbenlehre mit dem Zugang vergleicht, den Newton zu den Farben gewählt hat, erkennt, daß es sich hier um zwei völlig unterschiedliche Zugänge zu einem Thema handelt. Sie stehen aber nicht nur im Gegensatz zueinander, sie ergänzen sich auch in dem Sinne, als keines der beiden Systeme allein die Farben vollständig erfassen kann. Ein derartiges Verhältnis wird durch den Ausdruck «komplementär» beschrieben, der dabei eine tiefere Bedeutung bekommt, als er bei den Farben hat. Newtons Analyse der Farben ist demnach komplementär zu Goethes Umgang mit ihnen. Falsch ist keine der beiden Farbenlehren. Jede für sich gibt einen richtigen Aspekt der Welt wieder, der durch die andere ergänzt wird. Falsch ist nur der Schluß, den Goethe zieht, wenn er behauptet, Newton habe sich geirrt, und zwar gleich «doppelt und dreifach».
Um dieser Idee der Komplementarität Leben zu verleihen, vergleichen wir, was der britische Physiker und der deutsche Dichter zu den Farben sagen: Was für Newton einfach ist — reines Blau zum Beispiel, also («monochromatisches») Licht mit einer Wellenlänge -, ist für Goethe kompliziert, denn reines Blau muß erst durch aufwendige Mittel angefertigt werden. Es ist künstlich. Einfach für Goethe ist hingegen weißes Licht, weil es ohne Aufwand und ganz natürlich vorhanden ist. Newton sieht hierin allerdings eine Mischung aus allen Farben. Weißes Licht ist für ihn nicht einfach, sondern zusammengesetzt.
Was bei Goethe eine Einheit, ein Ganzes ist — das Schauen — zerfällt bei Newton (und seinen Nachfolgern) in viele Teile. Das Sehen von Farben fängt mit Reaktionen im Auge an, benötigt zu seiner Erklärung weitere Details aus der Netzhaut, den nachgeschalteten Nervenzellen, den Stationen, die sie auf dem Weg ins Gehirn anlaufen, und den Regionen im Kopf, die aus den elektrischen Signalen Sehen machen.
Die wesentliche Komplementarität der beiden Farbenlehren erkennt man, wenn man nach der Rolle des Subjekts fragt. Während Goethe es selbstverständlich in den Mittelpunkt stellt, nimmt Newton es ganz aus seiner Beschreibung heraus. Hier treffen zwei Wahrheiten aufeinander, die sich ergänzen. Goethe bietet die unmittelbare Wahrheit des sinnlichen Eindrucks gegen die mittelbare Wahrheit der Wissenschaft Newtons auf. Newton läßt die Anschauung («den reinen Menschensinn», wie Goethe es nennen würde) hinter sich, die Goethe ausdrücklich verwendet, um Klarheit über die Natur der Farben zu erlangen. Auf diesem Weg taucht etwas Trübes auf, und dadurch wird die Spannung geschaffen, die Komplementarität heißt und uns langsam vertraut sein sollte. Das Gegenteil einer tiefen Wahrheit (der von Newton) ist eben nichts Falsches, sondern wieder eine tiefe Wahrheit (die von Goethe).