Das System besteht aus zwei Kreisen, die vorführen sollen, wie aus Rot, Gelb und Blau die anderen Farben erzeugt werden können. Der sogenannte prismatische Kreis («prismatic») beginnt mit den genannten Primärfarben, aus denen Zwischenfarben entstehen, die einem zweiten Mischfarbenkreis zugrunde gelegt werden («compound»). Im Zentrum seiner Kreise demonstriert Harris das, was wir heute die subtraktive Mischung der Farben nennen: Seine wichtigste Beobachtung zeigt dabei, daß durch Überlappen der drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau Schwarz entsteht. (Ausführlicher Text)
Im Jahre 1766 — einhundert Jahre nach Newtons prismatischer Zerlegung des weißen Lichts — erscheint in England ein Buch mit dem Titel «The Natural System of Colours» (Historische Abbildung des prismatischen Kreises). In diesem setzt sich der englische Entomologe und Kupferstecher Moses Harris (1731-1785) mit dem berühmten Physiker Newton auseinander, und er versucht, die Vielfalt der Farben zu entdecken, die aus drei Grundfarben geschaffen werden können. Harris will als Naturforscher verstehen, welche Beziehungen die Farben untereinander haben und wie sie verschlüsselt sind, und er versucht in seinem Werk zu erläutern, nach welchen Prinzipien, «materially, or by the painter’s art», aus Rot, Gelb und Blau weitere Farben erzeugt werden können.
Harris nutzt dabei eine Entdeckung des Franzosen Jacques Christophe Le Blon (1667-1741) aus, der als Erfinder des Farbdrucks bezeichnet zu werden verdient und bei seinen Arbeiten 1731 als erster entdeckte, was heute jedes Schulkind lernt, daß nämlich drei Malfarben — eben Rot, Gelb und Blau — ausreichen, um alle anderen hervorzubringen. Obwohl Le Blon die grundlegende Dreierpalette erfand und seine Entdeckung mit vielen Farbstoffen demonstrierte, baute er seine Idee nicht zu einem wohlgeordneten Farbsystem aus. Dies blieb Harris überlassen, der die ersten gedruckten Farbenkreise 1766 vorstellte.
Harris unterscheidet in seinem Werk die Harmonie der «prismatic or primitive colours», die einen «prismatischen» Kreis bekommen (den wir links und groß vorstellen), von den «compound colours», die ihren eigenen Kreis bekommen (rechts und kleiner). Das Wort «prismatisch» könnte dabei zunächst verwirren. Harris meint nämlich nicht einfach die Spektralfarben, die Newton hinter einem Prisma beoachtet und kreisfömig angeordnet hat. Er meint vielmehr die unvermischten Pigmente («grand or principal colours»). Die Mischung («compound») der drei Grundfarben ergibt die drei erwähnten Zwischenfarben («mediates») Orange, Grün und Purpur, die ebenfalls im prismatischen Kreis auftauchen und alle durch natürliche Beispiele («fruit or flower») belegt werden. Die drei Hauptfarben, Rot, Gelb und Blau, sind Harris zufolge «the greatest opposites in quality to each other and naturally take their places at greatest distance from each other in the circle». Um diesen «größten Abstand» gleichmäßig im Kreis anzuordnen, braucht Harris eine gerade Anzahl von Kreissegmenten (Abb. Ordnungsprinzip), und als Konsequenz entfällt Newtons siebente Farbe, das Indigo.
Harris schlägt in seinem System vor, von den sechs bislang vorhandenen Farben die einander benachbarten jeweils so zu mischen, daß eine der beiden Komponenten überwiegt. Dabei ergeben sich 18 Farben, die in der Reihenfolge Rot, Orange-Rot, Rot-Orange, Orange, Gelb-Orange, Orange-Gelb, Gelb, Grün-Gelb, Gelb-Grün, Grün, Blau-Grün, Grün-Blau, Blau, Purpur-Blau, Blau-Purpur, Purpur, Rot-Purpur, Purpur-Rot den Kreis ausfüllen. Da Harris jede der drei Ausgangsfarben mit Hilfe konzentrischer Kreise in 20 verschiedene Stärkegrade (Sättigung) unterteilte, bringt sein Verfahren im prismatischen Kreis insgesamt 360 Farbtöne hervor.
Dem Kreis der Mischfarben liegen Orange, Grün und Purpur zugrunde. Sie werden zu drei Tertiärfarben, Braun, Olive und Schiefer (Brown, Olave, Slate), gemischt und zu einem analogen Kreis («Compound») angeordnet. Da die sekundären Mischfarben (Orange, Grün, Purpur) bereits im prismatischen Kreis enthalten sind, findet Harris nun durch seine Art der Mischung 15 weitere Farben, die er wiederum mit 20 Intensitätsgraden versieht, wodurch 300 neue und somit insgesamt 660 Farben bestimmbar werden (mit nur 33 Namen). Der Autor merkt dabei ausdrücklich an, daß viele von ihnen «never will be admit of being mixed together», da das Ergebnis lediglich «a dirty unmeaning colour» und für einen Maler nicht akzeptabel wäre.
Im Zentrum seiner Kreise demonstriert Harris das, was wir heute die subtraktive Mischung der Farben nennen: Seine wichtigste Beobachtung zeigt dabei, daß durch Überlappen der drei Grundfarben — Rot, Gelb und Blau — Schwarz entsteht. Es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, daß Newton solch eine Komposition fremd geblieben ist. Bei ihm wurden nicht Pigmente, sondern Lichtstrahlen gemischt. Newton addierte, während Harris subtrahierte. Additive und subtraktive Farbmischungen müssen sorgfältig unterschieden werden, wenn man Konfusionen vermeiden will. (Wir werden damit noch zu tun haben.)
Wenn wir erklären wollen, was bei der subtraktiven Farbmischung von Harris passiert, müssen wir nicht nur auf die spektrale Zusammensetzung des Lichtes eingehen und von Wellenlängen sprechen, sondern auch berücksichtigen, welche Farbeindrücke unser Kopf uns vermittelt, wenn ihm nur Teile des Spektrums angeboten werden. Hierbei zeigt sich, daß Farben nie einseitig und immer nur als Wechselspiel zu verstehen sind — in diesem Fall als Wechselspiel von Physik und Wahrnehmung.
Wir teilen das ganze dem Auge zugängliche Spektrum in drei Bereiche ein: Blau ist kurzwellige, Grün mittelwellige und Rot langwellige elektromagnetische Strahlung. Eine Fläche erscheint uns nun rot, wenn sie nur den langwelligen Anteil der Spektralfarben zurückwirft (reflektiert) und die übrigen verschluckt (absorbiert). Eine Fläche wird als gelb gemeldet, wenn sie nur Strahlungen aus dem mittel- und langwelligen Drittel reflektiert, und eine Fläche löst die Farbempfindung Blau aus, wenn von ihr aus nur kurz- und mittelwelliges Licht ins Auge fällt.
Indem Harris die Farben nun übereinanderschichtet, zieht er immer mehr Strahlungsanteile ab (Subtraktion). Kommen Gelb und Blau übereinander, bleibt nur der mittelwellige Teil, der im Kopf die Empfindung Grün auslöst. Kommen Rot und Blau übereinander, bleibt nur der kurzwellige Teil des Spektrums, der die Empfindung Violett bewirkt. Kommen alle drei zusammen, bleibt kein Anteil übrig. «Lux nulla» könnte man sagen, und das sieht so schwarz aus, wie es im Zentrum des prismatischen Kreises erscheint. (Das dunkle Braun in der Mitte des Mischkreises kann auf ähnliche, wenngleich auch kompliziertere Weise erklärt werden.)
Das Buch von Harris gehört zu den seltenen Exemplaren seiner Art. Nur drei Kopien haben die Zeiten überlebt, und nur eine von ihnen ist in einer zufriedenstellenden Verfassung. Die von Moses Harris per Hand kolorierten Kupferplatten sind zum ersten Mal 1963 mit Unterstützung des amerikanischen Kunsthistorikers Faber Birren durch die Whitney Library of Design in New York nachgefertigt und publiziert worden.