Raimundus Lullus (um 1230-1315) wurde berühmt durch eine Lehre, die seine Anhänger «die große Kunst» «Ars magna» nannten. Lullus glaubte verstanden zu haben, daß es in jedem Wissensgebiet ein paar wenige grundlegende Begriffe und Prinzipien gibt, die ohne weitere Klärungen und zusätzliche Fragen vorausgesetzt werden dürfen. Es ist klar, wie diese Lullische Kunst mit den Farben in Verbindung steht. Die Vielfalt der Farben wird in Systemen durch die damit festgelegten Kombinationen von Grundfarben erfaßbar: die Geometrie der Kombinationen. Gezeigt werden vier mögliche Verbindungsnetze zwischen den Markierungspunkten eines Systems: der Italiener Giordano Bruno (1548 – 1600) in dem Werk «De lampade combinatoria lulliana», Guillaume Postel (1510 – 1581) in seinem «Livre de la formation» mit seinen «231 Türen», Athanasius Kircher (1602 – 1680) mit seiner alchemistischen Kombinationstafel und der große Leibniz mit der «Ars combinatoria», die er 1666 vorgelegt hat. (Ausführlicher Text)
Als Robert Grosseteste in Oxford das erste Farbsystem nach Aristoteles (Abb.) konstruierte, wurde auf Mallorca eine der schillerndsten Gestalten des Mittelalters geboren. Gemeint ist Ramon Lull oder — latinisiert — Raimundus Lullus (um 1235-1316). Er wurde berühmt durch eine Lehre, die seine Anhänger als die «große Kunst» — «Ars magna» — bezeichneten. Lullus glaubte verstanden zu haben, daß es in jedem Wissensgebiet ein paar wenige grundlegende Begriffe und Prinzipien gibt, die ohne weitere Klärung und zusätzliche Fragen vorausgesetzt werden dürfen — etwa in der Theologie Gott und seine Eigenschaften oder in der Psychologie die Seele und ihre Ausprägungen -, und er schlug vor, alles menschlliche Wissen aus diesen elementaren Bausteinen zu kombinieren. Dazu ordnete er die Grundbegriffe auf den Rand einer Kreisscheibe. Auf einer zweiten kleineren Scheibe notierte er noch einmal dieselben oder andere Begriffe, und beide Konstruktionen befestigte er anschließend drehbar aufeinander. Durch einfache Drehung der Lullschen Begriffsräder kommen so immer neue Stellungen und Kombinationen zustande, die zu Aussagen des betreffenden Fachgebietes ergänzt wurden. «Wahrheiten» ließen sich auf diese Weise mechanisch erzeugen. Man blieb natürlich nicht bei zwei Scheiben stehen, sondern legte immer mehr — bis zu 14 Stück! — aufeinander, um beliebig komplizierte Zusammenhänge präzise «aufdecken» zu können. Das System von Lullus bezeichnet denn auch so etwas wie den Anfang der modernen formalen Logik. In der Ars magna hat die Logik die Funktion einer universalen Wissenschaft, der Grundlage aller anderen Wissenschaften, angenommen (ars magna et ultima).
Eine der Scheiben, mit denen Ramos Lull seine Kunst betrieb, und welche in der Ars brevis enthalten ist, widmet sich den Eigenschaften Gottes. (Andere behandeln etwa die Seele, die Dinge, die Tugenden, die Todsünden und das Wissen.) Sie trug in der Mitte ein großes A, während die äußeren Felder von B an alphabetisch fortlaufend bezeichnet wurden. Anhand derselben — leicht modifizierten — Darstellung stellt rund dreihundert Jahre später der Italiener Giordano Bruno (1548-1600) in seinem Werk «De lampade combinatoria lulliana» das kombinatorische Verfahren erneut vor (nur das A im Zentrum ist weggelassen). Die Abbildung zeigt diese Darstellung: Die Scheibe ist mit den göttlichen Attributen der Güte (bonitas), der Größe (magnitudo), der Dauer (aeternitas), der Macht (potestas), der Weisheit (sapientia), des Willens (voluntas), der Tugend (virtus), der Wahrheit (veritas) und des Ruhmes (gloria) ausgestattet. Der einen Scheibe sind diese Eigenschaften in substantivierter, der anderen in adjektivischer Form einbeschrieben, so daß — miteinander verbunden — Begriffskombinationen möglich werden; dieser Technik bedient sich auch Giordano Bruno. Als Anhänger der kopernikanischen Lehre verstand er die Welt als eine komplexe Konstruktion, in diese Konstruktion war für ihn auch selbstverständlich die Metaphysik miteingebunden. Giordano Bruno blieb inhaltlich dieser Metaphysik verpflichtet, strukturell aber bediente er sich schon «wissenschaftlicher» Methoden, diese zu ergründen. Diese Auffassung hat ihn das Leben gekostet, er wurde im Jahre 1600 als Ketzer öffentlich auf dem Campo dei Fiori in Rom verbrannt; für die nachfolgenden Philosophen, Dichter, aber auch für viele Naturwissenschaftler war er ein wichtiger Vordenker unseres modernen Weltverständnisses.
Lulls Idee, mit formalen Mitteln — also durch mechanisches Operieren — zu Einsichten zu gelangen, hat die Menschen vieler Zeiten und Kulturen begeistert. Sie scheint auch in der jüdischen Geheimlehre namens Kabbala auf, die hinter Zahlen und Buchstaben einen verborgenen Sinn der Welt suchte. Ihrer ersten Blütezeit während des 13. Jahrhunderts in Spanien folgt eine neue Verbreitung im 16. Jahrhundert. Die Abbildung stammt aus dem «Livre de la formation» von Guillaume Postel (1510-1581), gleichfalls der ars combinatoria verbunden, damit lullianischer und kabbalistischer Herkunft. Alle 22 Buchstaben des hebräischen Alphabetes werden mit den anderen 21 Buchstaben verbunden. Es ergeben sich 22 x 21 = 462 Möglichkeiten von Linienverbindungen. Da jede dieser Linien zwei Richtungen aufweist, in welchen sie gezeichnet werden kann, kommen wir auf «231 Türen». In einer mit Präzision ausgeführten Zeichnung kann man erkennen, wie sich der äußere Kreis im inneren widerspiegelt und sich im folgenden in sechs kleineren, weniger gut unterscheidbaren Kreisen fortsetzt. So mächtig ein Zentrum gewöhnlich ist, so gefährlich ist es auch für die Farben. Da wo sich alle Linien treffen, kann nur ein düsteres Grau entstehen. Bunt geht es nur bei den Verbindungen zu, die am Rande verlaufen.
Die Illustration zeigt ein Schema der «Ars combinatoria» von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wiedergegeben. Dieses System basiert auf den vier Elementen (Ignis — Feuer, Aer — Luft, Aqua — Wasser, Terra — Erde), den vier Bedingungen der Materie (Humiditas — Feuchtigkeit, Siccitas — Trockenheit, Frigititas — Kälte, Caliditas — Wärme) und zwei Möglichkeiten des Drehsinns (Remissa e Summa). Nun sind natürlich nicht mehr alle Kombinationen erlaubt — denn was soll man sich beispielsweise unter einer trockenen Feuchtigkeit vorstellen? Es ergeben sich drei Leserichtungen, die die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten bezeichnen: Das Gegenteil (zum Beispiel Terra und Aer), das Mögliche (zum Beispiel Siccitas und Caliditas) und das Unmögliche (zum Beispiel Frigititas und Caliditas). Gerade durch diese Einschränkung der Kombinierbarkeit kann das System von Leibniz auf die Farben übertragen werden. Auch hier gibt es Gegensätze, die sich nicht mischen, denn wie sollte ein «Rötlichgrün» oder ein «Bläulichgelb» aussehen? Mit dieser Frage hat man sich übrigens bis in unsere Zeit beschäftigt. Der Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) schreibt in seinen «Bemerkungen über die Farben» (I,14): «Wenn es aber auch Menschen gäbe, denen es natürlich wäre, den Ausdruck «rötlichgrün» oder «gelblichblau» in konsequenter Weise zu verwenden, und die dabei vielleicht auch Fähigkeiten verrieten, die uns fehlen, so wären wir dennoch nicht gezwungen, anzuerkennen, sie sähen Farben, die wir nicht sehen. Es gibt ja kein allgemein anerkanntes Kriterium dafür, was eine Farbe sei, es sei denn, daß es eine unserer Farben ist.»
In einer anderen Anordnung und mit anderen Mustern präsentiert sich die alchemistische Kombinationstafel des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher (1602-1680). Die Alchimie hat mit der Farbenlehre die Annahme gemein, daß es ein «Urmaterial» geben muß, das in den bekannten Elementen enthalten ist. Das Ziel der Alchimisten besteht darin, diese «prima materia» aus den Stoffen herauswachsen zu lassen. (Im hier vorliegenden Versuch bestimmen die beiden Faktoren Lösung und Gerinnung — «igne solvuntur et coagulantur» — die aus der Kombination von Metallen und Nichtmetallen hervorgehenden Resultate.) Wenn — wie bei Robert Grosseteste — diese gesuchte «prima materia» und das «lux» identisch sind, tut ein Farbsystem genau dies.
Datierung: 16. und 17. Jahrhundert
Referenzsysteme: Grosseteste, Alberti, da Vinci — Kircher
Literatur: G. Postel, «Livre de la formation», um 1560; G. Bruno, «De lampade combinatoria lulliana», 1587; G. W. Leibniz, «Ars combinatoria», 1666; A. Kircher, «Ars magna sciendi», Amsterdam 1669; A. Kircher, «Ars magna lucis et umbrae», Rom 1646.