Anthroposophie
Rudolf Steiner führt
Die Anthroposophie ist das Werk des österreichischen Philosophen und Gelehrten Rudolf Steiner. Er wurde 1861 in Kroatien geboren und starb 1925 in Dornach bei Basel. Rudolf Steiner wurde maßgeblich von der Naturphilosophie Goethes beeinflußt. Mit knapp zwanzig Jahren besorgte er sich das wissenschaftliche Werk des deutschen Forschers und Dichters und studierte unter anderem dessen morphologischen Schriften. Zwischen 1890 und 1897 war er in Weimar als Mitarbeiter an der großen Goethe-Ausgabe tätig, wobei er die Edition der Farbenlehre betreute, für welche er auch das Vorwort verfaßte und die Anmerkungen redigierte. Nach Berlin übersiedelt, trat Steiner der theosophischen Gesellschaft bei, von welcher er sich 1913 löste, um die anthroposophische Gesellschaft zu gründen. Diese hatte Sitz in Dornach, wo später auch das Goetheanum gebaut wurde.
Die anthroposophische Lehre von Steiner betont das theosophische Interesse für die Natur, die Bestimmung des Menschen und den geistigen Befreiungsprozeß, der die Geschichte des Menschen kennzeichnet. Ausgangspunkte der anthroposophischen Lehre sind die Unterscheidung des Menschen in sieben Prinzipien und den Kreis der Wiedergeburt, dazu bestimmt, sich bei der Rückkehr des universalen Geistes zu schließen. Die Anthroposophie entstand zum Zeitpunkt einer tiefen Krise der europäischen Gesellschaft und Kultur. Die neue Lehre bestach durch ihre besondere Aufmerksamkeit der Form gegenüber und verbreitete schnell und erfolgreich eine neue Kultur künstlerischen Tuns. Die Eurythmie (Bewegungskunst und -therapie, bei der Wörter oder Melodien in Bewegung umgesetzt werden), die Aufmerksamkeit auf die Natur und ihre Morphologie, der Gebrauch der Farbe und die spirituellen Erfahrungen der Anthroposophie haben viele europäische Künstler der Zwischenkriegszeit beeinflußt.
Steiner hat keine eigentliche Farbtheorie geschrieben, wohl aber in einer Anzahl von Vorträgen und Schriften, einschließlich der auf die Farbenlehre von
Im ersten Vortrag analysiert Steiner die einzelnen Farben:
Grün ist der Pflanzenmantel, der die Erde bedeckt. Die Pflanze besitzt nebst ihrem «physischen Leib» einen «Ätherleib», und dieser macht ihr eigentliches Leben aus. Grün ist das tote Bild dessen, was in der Pflanze lebt.
Pfirsichblüt hingegen ist die «Farbe des menschlichen Inkarnats», der «menschlichen Hautfarbe». Diese Farbe verdeutlicht das dem Menschen eigentliche, seelische Moment, denn wenn es sich aus dem Gesicht zurückzieht, wird dieses grünlich. Somit, sagt Steiner, dürfen wir Pfirsichblüt als das Bild der Seele — genauer — als das lebendige Bild der Seele betrachten. Steiner unterstreicht, daß hinter dem Pfirsichblüt nicht etwa der Tod steht (wie bei Grün), denn wenn das Pfirsichblütenfarbene verschwindet, verschwindet das Animistische, nicht aber das Lebendige.
Weiß bezieht sich nicht auf ein Sein der äußerlichen Welt, sondern auf das Licht und — mittels kosmischer Erfahrung — auf die Sonne. Steiner beobachtet, daß zwischen dem Weiß, das sich als Farbe zeigt und dem Licht eine besondere Beziehung bestehen muß. Das Licht wird nicht auf die selbe Art wahrgenommen wie die Farben. Es ist vielmehr gleichermaßen Bedingung der Wahrnehmbarkeit von Farben und notwendig, um unser Ich zu erreichen: «Es hängt unser Ich, das heißt, unser Geistiges, mit diesem Durchleutetsein zusammen.» «Das Ich ist geistig, es muß sich aber seelisch erleben.» Weiß, oder das Licht, ist somit das seelische Bild des Geistes.
Schwarz ist die Finsternis. In der Natur bezieht sich die Erfahrung des Schwarzen auf die Kohle. So wie Weiß von der Art ist, unweigerlich auf Schwarz zu verweisen, so verweist die Kohle auf das Transparente, Durchsichtige. Die Kohle «kann auch hell und durchsichtig sein — dann ist sie allerdings ein Diamant». Malt man schwarz auf weiß, so wird die weisse Oberfläche vom Geist durchdrungen: «Schwarz stellt dar das geistige Bild des Toten».
Am Ende des ersten Vortrages faßt der Begründer der Anthroposophie die vier untersuchten Farben folgendermaßen zusammen: «Grün ist das tote Bild des Lebenden, Pfirsichblüt das lebende Bild der Seele, Weiß oder Licht das seelische Bild des Geistes, Schwarz das geistige Bild des Toten.» Jede dieser vier Farben ist kein Reales, sondern nur Bild. Deshalb werden sie als Bildfarben bezeichnet. Steiner verbindet die vier Farben kreisförmig: Vom Schwarz — dem geistigen Bild dessen, was tot ist (Reich der Mineralien) — zum Grün — dem toten Bild des Lebens (Reich der Pflanzen) — zum Pfirsichblüt — dem lebenden Bild der Seele (Reich der Seele) — zum Weiß — dem seelischen Bild des Geistes (Reich des Geistes) — und schließlich vom Geist zum Tod beziehungsweise zum Schwarzen. Das Modell ist in einer im Text des Vortrages enthaltenen Zeichnung skizziert. Diese Darstellung hebt den abfolgenden, aber auch eine Steigerung und Bereicherung erfahrenden Prozeß hervor, in welchem jedes folgende Element etwas von seinem vorhergegangenen einbehält.
Nebst den vier Bildfarben analysiert Steiner die drei Glanzfarben Blau, Rot und Gelb. In der Zeichnung sind sie längs eines in den großen Kreis eingefügten Halbkreises angelegt, um eine Verbindung zwischen den komplementären Farbenpaaren des traditionellen Farbkreises zu erhalten. Man kann erkennen , daß sich im anthroposophischen System wie in den westlichen und östlichen Systemen der spirituellen Tradition das Thema der Drei und der Vier, des Dreieckes und des Quadrates, wiederholt. Wenn hier statt dem Dreieck ein Halbkreis gewählt wurde, so, um den steiner’schen Geist besser aufzufangen, der dazu neigt, weiche, fließende Übergänge vorzuziehen, sei es zwischen den Formen als auch zwischen den Farben. Gelb ist die Farbe, die vom Zentrum «genährt» werden muß. Sie muß — mit nach außen abnehmendem Glanze — ausstrahlen können. «Das Gelbe will durch seine eigene Natur an seinen Rändern schächer und immer schwächer werden, es will ausstrahlen.» «Es spricht nicht das Gelbe, wenn es begrenzt ist (…).» Blau nimmt keine einheitlich gefärbte Oberfläche an. «Das Blau, das staut sich an seinen Grenzen und rinnt in sich selber, um so einen Stauwall um ein helleres Blau herum zu machen. Dann offenbart es sich in seiner ureigenen Natur.» «Das Rote will gleichmäßig sein, keine Grenzen haben, aber als gleichmäßig ruhiges Rot wirken. Es will weder strahlen noch sich stauen, es will in sich gleichmäßig wirken, es will die Mitte halten zwischen (…) Verfließen und Stauen.»
Die Art von Beziehung, die zwischen den Farben des anthroposophischen Systems besteht, kann auch als
Die drei kleineren Zeichnungen zeigen ein analoges Problem aus dem Bereich der Geometrie. Auch hier findet sich derselbe kreative, rhythmische Verlauf zwischen Außen und Innen, vergleichbar jenem zwischen Bild und Glanz des anthroposophischen Systems: Einem äußeren Punkt P (einem Pol) korrespondiert immer eine Polare p (Verbindungslinie der Berührungspunkte zweier von einem Pol an einen Kegelschnitt gezogener Tangenten). Umgekehrt entspricht einer äußeren Gerade immer ein Punkt im Inneren. In der Tangente fallen Pol und Polare, Außen und Innen zusammen.
In der letzten Zeichnung schließlich sind die sieben Farben in Form des Kurvensystems von Cassini angelegt. Diese Familie der Kurven vierter Ordnung, welche das kontinuierliche mit dem diskreten System verknüpft, ist im Werk Steiners ersichtlich, besonders in den Skizzen für den Bau von Dornach — dem Goetheanum -, das dem Sitz der anthroposophischen Bewegung dient. In dem einen Feld befinden sich die Bildfarben, im anderen die Glanzfarben. Die Herde sind von Weiß und von Schwarz besetzt und als Zentren angelegt. Gemäß den Gesetzen der Pole und der Polare jedoch bedeutet Zentrum zu sein gleichfalls, das Unendliche zu sein — das absolute Innere und das absolute Äußere sind eins. Das komplexe Kurvensystem von Cassini-Kurven, welche die arithmetischen Operationen der Multiplikation darstellen — eröffnet viele Möglichkeiten, die schöpferischen Beziehungen zwischen den Farben zu interpretieren.
Datierung: Unsere Darstellung beruht im wesentlichen auf drei Vorträgen von Rudolf Steiner, die sich mit dem «Wesen der Farbe» beschäftigen und im Mai 1921 in Dornach bei Basel gehalten wurden.
Referenzsysteme:
Literatur: R. Steiner, «Das Wesen der Farbe», dritte Auflage, Dornach 1980; J. Pawlik, «Goethe Farbenlehre» Verlag DuMont Schauberg, Köln 1974; H.O. Proskauer, «Zum Studium von Goethes Farbenlehre», Zbinden Verlag, Basel 1977.