Hebräische Tradition
In dem angegebenen Zeitraum taucht scheinbar unvermittelt eine jüdische Mystik und Theosophie auf, deren Ursprung bis heute noch Rätsel aufgibt, die es zu erforschen gilt. Die auf Außenstehende seltsam faszinierend wirkende Geheimlehre mit dem ansprechenden Namen «Kabbala» ist als historische Erscheinung im mittelalterlichen Judentum in der französischen Provence entstanden. Die 32 Wege der «Hokhma» der Weisheit Gottes weisen neben den 22 Konsonanten des
Der Begriff Kabbala (Qabbalah) taucht erstmals am Ende des 12. Jahrhunderts innerhalb der deutschen chassidischen Bewegung auf. Kabbala ist abgeleitet vom Verb «quibbel», welches soviel bedeutet wie «erhalten», «bekommen» und somit den Akt des Empfangens der mündlich oder schriftlich von Generation zu Generation weitergegebenen Tadition bezeichnet. Das Verb sagt aber noch nichts aus über eine allfällige mystische oder esoterische Bedeutung dieser Überlieferung. Die Kabbala ist eine Geheimlehre und umfaßt eine jüdische Mystik und Theosophie, deren Ursprung bis heute Rätsel aufgibt, weshalb denn die im folgenden gemachten zeitlichen und örtlichen Angaben eine beträchtliche Spanne aufweisen. An der Bildung der Kabbala sind maßgeblich zwei Strömungen beteiligt: eine mittelalterliche Strömung provenzalischen Ursprungs und eine palästinensische, welche sich im Mittelmeerraum zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert verbreitete. Gershom Scholem führt in seinem Werk «Ursprung und Anfänge der Kabbala» aus, daß die kabbalistischen Quellen zahlreich und uneinheitlich seien. Der ekstatisch-prophetischen Stömung näherte sich eine Stömung der theosophisch-spekulativen Manier an, welche sich im Sefer ha-Zohar manifestiert, aber nebst diesen bestimmen auch neoplatonische und vor allem gnostische Einflüsse viele der kabbalistischen Motive. Die Kabbala ist berüchtigt wegen der sogenannten praktischen Kabbala, welche die Techniken der schwarzen Magie beinhaltet, das heißt ein Instrumentarium für einen profanen, von niederen Eigeninteressen bestimmten Gebrauch der kabbalistischen Prinzipien zur Hand gibt, weshalb sie von den zahlreichen Meistern der Kabbala auch zurückgewiesen und verdammt wird.
Die Kabbala hat das Ziel der Bewußtwerdung der wirklichen Natur der Welt als Manifestation des Göttlichen, welche eine Rückkehr an den Ursprung anstrebt. Diese Rückkehr kann in Form einer ekstatischen Kontaktaufnahme oder mittels des kognitiven Durchdringens der Sphäre des Göttlichen geschehen. In der Tat erfuhr unter den diversen kabbalistischen Richtungen die theosophische oder zoharische Strömung mit ihrem kognitiven — sprach- und schriftorientierten — Ansatz den größten Aufschwung. Verflochten mit anderen Traditionen war es diese Version der Kabbala, die den größten Einfluß auf die westliche Kultur ausübte und insgeheim das europäische philosophische Denken beeinflußte. In dieser Kabbala transformiert sich der mystische Aufstieg in einen Erkenntnisweg, und das Göttliche enthüllt sich in einer komplexen figürlichen Topographie.
Frühe Texte geben knappe Darstellungen der Schöpfung und des Kosmos, wobei immer wieder über die Weisheit Gottes spekuliert wird, die hebräisch hokmah heißt. So ist zum Beispiel davon die Rede, daß Gott in 32 wunderbaren Wegen der Weisheit (…) seine Welt eingegraben und geschaffen habe. Diese 32 Wege weisen hin auf die Summe aus den 10 sogenannten Urzahlen, den zehn Sephiroth und den 22 Pfaden, welche die Sephiroth untereinander verbinden und welche sich in den 22 Konsonanten des hebräischen Alphabets spiegeln.
In der großen
Prämisse der Kabbala ist die Unerkennbarkeit Gottes als Substanz, als Prämisse außerhalb des Systems stehend. Gott ist das En-Sof, das Grenzenlose, aber auch das Nicht-Sein, das Nichts — also der versteckte Gott. Er ist als Punkt konzipiert, welcher potentiell alle Seinformen in sich trägt. Das En-Sof erschafft aus dem Schweigen, im Schweigen — der aufgerissene Mund, welchem noch kein Ton entweicht. En-Sof ist das Licht, das sich entzieht oder verbirgt — eine dunkle Flamme, weder weiß noch schwarz, weder rot noch grün noch von irgendeiner anderen Farbe. Es ist die Flamme, die erst Farben hervorbringt, wenn sie Maß und Ausdehnung annimmt. Daher steht das En Sof in der Darstellung des Baumes der Sephiroth außerhalb — jenseits aller Metaphern und Symbole.
Die traditionelle Einteilung des Schemas der Sephiroth in zehn Grade oder Formen leitet sich von der zugrundeliegenden Exegese ab. An der Spitze steht Kether, die Krone. Von ihr aus führt der Weg zu Hokmah, dem Ort der Weisheit und von da aus zu Binah, dem Urteilsvermögen und der Vernunft. Diese drei Sephiroth umfassen die erste Dreiergruppe, die in den Überschneidungsflächen der vier Prinzipien sichtbar wird und sind gleichbedeutend mit den ersten Schritten die das En-Sof — der schöpferische Hauch — außerhalb seiner selber unternimmt. Diese Triade gehört zum Prinzip der Emanation, des Ausströmens aus dem unveränderlichen, vollkommenen göttlichen Einen, bevor die eigentliche Schöpfung ihren Anfang nimmt. Ihr entsprechen die drei Grundelemente Wasser, Luft und Feuer. In der zweiten und mittleren Triade in der Überschneidungsfläche des Prinzips der Schöpfung (creazione) und des Prinzips der Gestaltwerdung (formazione) durchläuft der von Binah kommende Weg eine Position ohne Ziffer, die als Bewußtsein oder Daat angegeben wird. Als nächstes folgen Hesed, die Gnadenspenderin (das Mitleid), Gevurah (oder Din), die richtende, strafende und gesetzgebende Instanz und Tifereth, der Ruhm und die Schönheit, welche den Ausgleich zwischen den beiden vorangehenden Prinzipien herstellt. Die dritte Triade in der Überschneidungsfläche des Prinzips der Gestaltwerdung und des Prinzips der Tat führt weiter zu Nesah, dem Sieg, Hod, der Majestät und Jesod, dem Fundament, das die Welt hervorbringt. Diese beiden Dreiergruppen entsprechen zusammen dem Gebäude der Welt, den sieben Tagen der Schöpfung und den sechs Richtungssinnen im Raum. Gemeinsam versinnbildlichen diese drei Gruppen den lebendigen Gott.
Den Weg beschließt Malkuth, das Reich der göttlichen Herrschaft, der Ort der Harmonie der hervorbringenden Sphäre. Es schließt alle Mächte mit ein, ist die Präsenz, die Immanenz Gottes (Schechina), der dunkle Spiegel, in welchem die Propheten Gott verehren. Das zehnte Sephiroth repräsentiert den allmächtigen Gott und die wiedervereinende Synthese.
Es ist völlig ausgeschlossen, auch nur eine Andeutung der Komplexität der Kabbala zu geben, es ist auch unmöglich, eindeutige Farbzuordnungen in ihr ausfindig zu machen, denn die Färbungen der einzelnen Sephiroth sind wegen der Vielfalt der Verbindungen der Sephirot untereinander aber auch der einzelnen zu sich selber mysteriös und vielfältig. Deshalb haben wir uns für die gezeigte bunte Fassung entschieden, die solche Farben betont, die in der Tradition besonders häufig aufgeführt werden. Von farblosem Licht zum Beispiel ist Keter, die Krone — sie kann jedoch auch schwarz sein, wenn sie sich auf die Quelle bezieht, weiß in ihren niedrigeren Manifestationen und farbig, wenn sie sich auf sich selbst bezieht. Hokmah seinerseits umfaßt alle Farben — es sind die sieben gemäß der mittelalterlichen Physiologie dem Auge innewohnenden Farben. Versinnbildlichend haben wir Blau gewählt als Abgrenzung zum Schwarz und wegen seines Symbolgehalts als Quintessenz. Für Binah führt die Tradition besonders häufig Grün auf — «ein grüner Streifen, der die Welt umgibt», schreibt Scholem. Präzision ist bezüglich der Farben nicht dringlich, übernehmen sie doch keine zentrale Bedeutung. Sie bilden vielmehr den Hintergrund der Konstruktionen, mit denen die Welt als Ausdruck der göttlichen Weisheit verstanden werden soll. In der Dreiergruppe Nesah, Hod, Jesod umfassen jede der drei Sephiroth nebst jeweiliger Gewichtungen alle Farben. Die Summe der Farben kann somit in den Farben des Regenbogens (als dessen grundlegende Farben Weiß, Grün und Rot gelten) synthetisiert werden. Der Figur des Regenbogens — «dem auffälligsten natürlichen Farbsymbol», wie Scholem schreibt — widmeten die Kabbalisten große Aufmerksamkeit. Er versinnbildlicht den Pakt zwischen Gott und seiner Schöpfung, wobei das hebräische Wort für «Bogen» Kescheth heißt und in der rabbinischen Literatur gleichzeitig den Penis bezeichnet. Die Bild des Regenbogens vervollständigt sich, nimmt man das zehnte Sephiroth Malkuth hinzu, aus dessen Reich sich der Regenbogen emporschwingt und zu welchem er sich zurückbiegt, und welches gleichzeitig das weibliche Element der göttlichen Manifestation repräsentiert sowie als farbige Zusammenfassung aller sephirothschen Kräfte gesehen werden kann. Dennoch bleibt die Interpretation des Regenbogens schillernd: «Die Harmonie der Regenbogenfarben bezieht sich teilweise auf die Konzentration und Vereinigung der aktiven, zeugenden Kräfte der Sephiroth», schreibt hierzu Scholem.
Nebst dem Baum der Sephiroth ist noch die
Neben diesem Versuch der Darstellung eines Systems ausgehend von den 10 Sephiroth, zeigt die kleine Darstellung
Datierung: zwischen dem 12. und dem 17. Jahrhundert
Literatur: Z. S. Halevi, «Kabbalah Tradition of hidden knowledge», London 1979; G. Scholem, «Ursprung und Anfänge der Kabbala», Berlin 1962; Carla Randel, «Farbe, Tarot und Kabbala», Heinrich Hugendubel Verlag, München 1994.